7. April 2014
Noch vor der Dämmerung reihen sich die ersten von später unendlich scheinenden Menschenmassen in den Warteschlangen vor dem Stadion ein. Im Stadion selbst laufen die letzten Vorbereitungen auf Hochtouren bis zu dem Moment, an dem Ruandas Präsident Paul Kagame, viele seiner Amtskollegen aus verschiedenen Ländern, UN Generalsekretär Ban Ki-moon und weitere hohe Persönlichkeiten die Ehrentribüne betreten und die Menge plötzlich zu einem unruhigen Schweigen verstummt. Das Stadion musste schon lange zuvor seine Tore schließen; selbst ein so riesiges Stadion ist zu klein für die ruandische und internationale Gemeinschaft der Trauer und der Erinnerung.
Hope Azeda hat keine Zeit die wichtigen Persönlichkeiten in der Menschenmenge auszumachen. Sie hat nicht einmal Zeit einen einzigen Blick auf die Zuschauerränge zu werfen. Sie muss sich konzentrieren, alle Details des Kulissenaufbaus und der Technik überprüfen sowie die Verfassung ihrer Tänzerinnen und Tänzer erneut studieren, verbessern oder beruhigen. Sie spürt die Anspannung, die in der Luft hängt, die Angst und die Erwartungen der Menschen vor Ort und der tausend Anderen, die von überall auf der Welt an diesem Montagvormittag des 7. April 2014 auf das Stadion „Amahoro“ (Kinyarwanda für „Frieden“) in Kimironko, einem Stadtteil Kigalis in Ruanda und demnach auch auf sie blicken.
Hope Azeda ist Verantwortliche der kompletten Performance innerhalb einer Veranstaltung, die noch ihres gleichen sucht. Der 7. April 2014 ist nicht irgendein Tag mit irgendeiner Großveranstaltung in Ruandas Hauptstadt Kigali, im hügeligen Herzen Afrikas. Es ist der Tag des 20-jährigen Gedenkens an den Völkermord von 1994.
Rückblick
Vor 20 Jahren am 6. April wird bei einem bis heute ungeklärtem Attentat das Flugzeug des damaligen ruandischen Präsidenten Habyarimana und seines burundischen Amtskollegen über Kigali abgeschossen. Dies gilt als Startschuss für eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit des 20. Jahrhunderts. Am 7. April beginnt das Morden an den Tutsi und moderaten Hutu durch radikale Hutu. Der Völkermord war von langer Hand von den Führungseliten geplant. Erst nach 100 Tagen der Hölle gelingt es der im Exil gegründeten Opposition unter der Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame (seit 2000 im Amt), Kigali zu befreien und dem Terror ein Ende zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits mehr als 800.000 Menschen ermordet.
Heute versucht sich die ruandische Nation wieder zu vereinen, Hutu und Tutsi leben in Frieden nebeneinander. Jedes Jahr gibt es Gedenkveranstaltungen, dieses Jahr sind sie besonders groß, es ist das 20-jährige Gedenken, welches ein zukunftsweisendes Zeichen setzen soll für Ruanda und die internationale Gemeinschaft.
Das ethnische Konfliktpotenzial, welches sich 1994 in unbeschreiblichen Gräueltaten entlädt, reicht bis in die Kolonialzeit zurück und steigert sich nach Ruandas Unabhängigkeit 1962 mit der Errichtung einer „Hutu-Republik“ immer weiter. Schon früh gab es aufgrund verschiedenster Pogrome der Hutu gegen die Tutsi regelrechte Flüchtlingswellen von Tutsi in die Nachbarländer Tansania und Uganda.
Unter ihnen auch Hope Azedas Eltern. Hope selbst wird später im ugandischen Exil geboren. Sie und ihre Familie haben Glück rechtzeitig geflohen zu sein, die kleine Hope kann von Beginn an eine außerordentlich gute Schulbildung genießen, während in ihrem Heimatland Ruanda das Grauen erst richtig beginnt. Bereits in der Grundschule fällt Hopes Lehrer_innen auf, dass sie ein äußerst kreatives Mädchen ist, früh anfängt während der Mathestunden lieber eigene Gedichte zu schreiben als zu rechnen. Ihre Eltern entscheiden sich das künstlerische Talent ihrer Tochter zu fördern, schicken Hope auf eine private Kunstschule. Sechs Jahre lang arbeitet sie hart, konzentriert sich vor allem auf das kreative Tanzen und hat erste erfolgreiche Auftritte mit der schulischen Tanzgruppe. Im Rückblick sagt Hope, es sei eine anstrengende Zeit gewesen, manchmal seien sie zur Kreativität gezwungen worden. Doch letztlich hat es all das hervorgebracht, was nun ihren Charakter und ihr Leben ausmacht. 1998, nach dem Besuch der Universität, wo sie sich nochmals verstärkt auf Drama, Tanz und Musik spezialisierte, kehrt Hope zurück zu ihren Wurzeln nach Ruanda. Es sind noch keine vier Jahre seit dem Völkermord vergangen. Sie sagt, sie selbst sei überfordert gewesen mit der Situation.
Doch dann entwickelt sie ein Motto für sich selbst – und mit ihm eine Hoffnung für Ruanda: „Was nicht gesagt werden kann, kann gesungen werden, was nicht gesungen werden kann, kann getanzt werden.“ (What can’t be said can be sung, what can’t be sung can be danced.) Obwohl die Kunst, wenn überhaupt, in Ruanda strikt den Männern vorbehalten ist, kämpft Hope, entwickelt erste Kunstprojekte mit Kindern. Und überraschend soll sie 1999 zum fünfjährigen Gedenken an den Völkermord ihre erste große Performance für den Staat vorlegen. Von dem Moment an beginnt ihre Karriere als gefragte Künstlerin in Ruanda.
“Kinder sind Bäume, die gegossen werden müssen und Vögel, die ein offenes Fenster zum Losfliegen brauchen.”
(Kids are trees to be watered and birds needing a window to fly.)
Heute lehnt Hope manchmal sogar vielversprechende Anfragen ab. Sie habe schlicht keine Zeit, viel lieber bleibe sie bei „ihren Kindern“, wie sie die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihrer Kunstakademie nennt. Obwohl diese Kinder den Völkermord von 1994 nicht direkt miterlebt haben, sind sie dennoch persönlich betroffen. In Ruanda gibt es keine Familie, die nicht als Opfer, als Flüchtling oder als Täter Teil des Völkermords war und ist.
“Wenn Krieg kommt und geht, sind die Kinder des Krieges danach immer Teil davon. Auch die Kinder von heute haben Fragen über Fragen, die in ihren Köpfen verankert sind und wofür sie keine Plattform finden, weil die heutige ruandische Gesellschaft nicht über die Geschehnisse von 1994 sprechen mag.”
Mit ihrer Kunst möchte sie deshalb den Kindern Platz geben für Konversationen und Dialoge, für einen offenen Austausch, für Vertrauen – und damit in gewissem Maße auch einen Heilungsprozess einer ganzen jungen Nation voranbringen. Sie ist überzeugt davon, dass „es keinen Wandel ohne Kunst geben wird“ (I can’t see change happening without art.). Die Veränderungen und Entwicklungen ihrer jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestätigen diese Aussage. Durch die künstlerische Aufarbeitung werden die Kinder aufgeschlossener – und vor allem freier. Die ethnische Zugehörigkeit spielt in der Kunst keine Rolle. Somit sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur diesbezüglich Hoffnungsträger_innen Ruandas. Hope inspiriert vor allem die unglaubliche Energie, welche Kinder haben und ihre Fähigkeit, nach vorne zu schauen und nicht ständig, wie die Älteren, in Vergangenem zu verharren, erklärt sie. Sie fügt hinzu: „Ältere sind Experten der Geschichte, Junge sind die Energie der Zukunft.“ Durch ihre künstlerische Arbeit mit Kindern über die Geschichte Ruandas versucht sie gewissermaßen einen Austausch zwischen den Generationen voranzubringen. Für ihre Performance am 7. April hat sie Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von elf bis 60 Jahre gewonnen.
Frauen in der ruandischen Kunst
Die Künstlerin Hope hat ihren Namen zur Lebensaufgabe gemacht. Hope selbst verkörpert die Freiheit, die mit der Kunst kommt, mit Leib und Seele. Vor dem Interview bestellt sie sich eine eiskalte Coke und will am Anfang auf dem Sofa, von dem wir zuvor einen Manager höflich verdrängt haben, erst einmal entspannen und über Gott und die Welt philosophieren statt über ihre Karriere zu sprechen. Und das, obwohl ihr Tag wie immer mit Meetings von morgens bis abends gefüllt ist. Sie erklärt das mit dem Ansatz, den sie auch für all ihre Theaterstücke hat:
“Fühlst du mich oder redest du nur über mich? (Do you feel me or are you just talking about me?”
Sie erzählt all dies mit einem aufgeschlossenen Lächeln, zu welchem sie wie fast immer ein leuchtend buntes Shirt und kurze Hosen trägt. Die Dreadlocks hat sie locker nach hinten gebunden. Zu solch einem Auftritt gehört eine ganze Menge Mut – vor allem als Frau in Ruanda. Sich so direkt als Künstlerin zu outen, ist keine Selbstverständlichkeit und auch Hope musste dies erst lernen. Doch jetzt möchte sie mit ihrem eindeutigen Stil anderen Mädchen und Frauen Mut machen, zu ihren Talenten und Interessen zu stehen und sich die künstlerische Freiheit zu erkämpfen. Nur einige Wochen zuvor hatte sie genau über dieses Thema, „Frauen in der ruandischen Kunst“ im Goethe Institut mit anderen weiblichen Akteuren der Kunstszene diskutiert. Künstler_innen haben kein großes Ansehen in Ruanda, auch nicht die Männer und die stark verankerten traditionellen Muster machen es den Mädchen fast unmöglich ihr Talent zu entdecken, geschweige denn ausleben zu können. Auch Hope sieht das in den männerdominierten Anmeldungen zu ihren Kunstprojekten. Aber sie berichtet auch von ersten Erfolgen. Für ihre Performance zu der 20-jährigen Gedenkveranstaltung hat sie ausschließlich weibliche Mitarbeiterinnen im Team: Kostümdesignerin, Tontechnikerin, Co-Choreografin. Sie sagt, Frauen seien die Bewegerinnen der Zukunft, sie müssten es nur noch der Welt vermitteln. (Women are the movers of our future! They simply still have to teach this the world.)
Shadows of Memory“ – Hoffnung hinter den Kulissen einer schwierigen Performance
Es war auch diese Frauenpower ihres „großartigen Teams“, wie Hope Azeda immer wieder betont, die sie weitermachen ließ, die Performance „shadows of memory“ für die größte Veranstaltung des 20-jährigen Gedenkens an dem Völkermord in Ruanda zu entwickeln. Das Stück sollte Aufklärung über den Völkermord, würdevolle Erinnerung an die Opfer und Hoffnungsgeber gleichzeitig sein. Und das für ganz Ruanda sowie für die internationale Welt.
“Es gab nicht nur einen Moment, an dem ich aufgeben wollte. An dem ich die Geschichten, die ich für die Performance anhören und aufarbeiten musste, nicht mehr aushielt. Oder an dem mich der Umfang schlicht zu überfordern drohte.”
Seit Dezember 2013 arbeitete Hope an dem Skript, sie war in ständigem Kontakt mit dem Völkermordgedenken-Komitee (kwibuka20-team) und sah sich mehrere Wochen vielmehr als „ein offenes Buch denn als eine Geschichtenschreiberin“, da sie unzähligen Zeugen zuhörte und Eindrücke an Gedenkstätten sammelte. Daher auch der Name „shadows of memory“ (Schatten der Erinnerung).
Seit jeher legt Hope bei ihren Stücken den Fokus auf die Verbindung von Kunst mit sozialen Problemen, Respekt und Menschlichkeit. Doch dieses Mal ist es eine besondere Herausforderung. Denn nicht nur sie selbst droht an ihre Grenzen zu stoßen, auch ihre Gruppe leidet unter dem enormen Zeitdruck und der Schwere der Aufgabe. Es ist keine Seltenheit, dass während den nur einen Monat dauernden Proben eine Tänzerin oder ein Tänzer auf Grund der traumatischen Erlebnisse zusammenbricht. Als das Stück das erste Mal komplett durchgespielt wurde, war das gesamte Team in Tränen aufgelöst. Spätestens ab diesem Moment wusste Hope, dass die Vorstellung im Stadion „heftig werden wird“. Intensiv werden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Schreie der Traumatisierten und die bedrückende Atmosphäre im Stadion vorbereitet.
Hope hatte vor allem Angst vor diesem ‘killer moment’, der das Töten 1994 symbolisiert. Doch wurde mit tosendem Applaus überrascht und weiß, sie hat es geschafft.
Hope ist am Vormittag des 7. April 2014 während des gesamten Stückes über immens angespannt, kann sich noch nicht einmal Ban Ki Moon von nahem anschauen. Den Moment, an dem in dem Stück das Morden symbolisiert wird, nennt sie „killer moment“; nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der bevorstehenden Reaktionen im Publikum. Sie sollte Recht behalten. Die herzzerreißenden Schreie im Stadion sind zu diesem Zeitpunkt ohne Unterbrechung aus allen Ecken zu hören. Doch dann kommt die Erlösung. Wie 1994 marschieren Soldaten ein, befreien die Überlebenden. Und das Publikum beginnt zu applaudieren.
Das erste Mal traut sich Hope Azeda aufzuschauen in die Menge, die ihre Performance angeschaut und miterlebt hat und nun mit diesem unerwarteten Applaus all ihre Befürchtungen verschwinden lässt und Erwartungen übertrifft. Sie sieht die unzähligen Fernsehkameras, die der Welt dieses Bild der Versöhnung und der Hoffnung übermitteln und auf der Ehrentribüne Ban Ki Moon, der ebenfalls applaudiert. Ab diesem Moment kann sie den Rest ihrer Performance genießen, denn sie weiß, sie hat es geschafft.
Erneut konnte ihre Kunst ein Stück weit die Menschen befreien. Und Hope wird nicht aufhören. Die nächste große Performance „bridges of roses“ steht an, erneut ein Stück mit Kindern und Jugendlichen in Zusammenarbeit mit Erwachsenen über die Geschehnisse von 1994. Denn sie hat sich ihren Namen „Hope“ zur Lebensaufgabe gemacht: Hinter und durch die Kulissen Hoffnung in Ruanda und der Welt zu verbreiten.