Tiefgreifende Versöhnung braucht Zeit

Ruanda: Gedenken an den Genozid

Die “kwibuka flame”, die Gedenkflamme, ist seit dem 7. Januar hundert Tage lang im ganzen Land untwergs und macht in jedem der dreißig Distrikte Ruandas Station. Am 7. April wird sie in die Hauptstadt Kigali zurückkehren, wo sie die nationale Gedenkflamme entzünden und damit die offizielle Trauerzeit einläuten wird. © Timothy Kisambira
Vor 20 Jahren fielen in Ruanda etwa eine Million Menschen dem Völkermord an den Tutsi zum Opfer. Wie steht es heute um die Nation?

Im Frieden und der Einheit kommen wir zu dir, vereint als eine Familie des Glaubens […].“ Wie jeden Sonntag, wird auch heute der Gottesdienst in der katholischen  Kirchengemeinde St. Dominique in Ruandas Hauptstadt Kigali mit diesem Lied eröffnet. Wiederholt wird es in den wöchentlichen Chorproben nicht mehr. Es ist das erste Lied, das jedes Chormitglied auswendig kann. Dies liegt insbesondere an der großen Bedeutung der Worte für jeden Einzelnen und für den Chor als Gemeinschaft. Dieser zählt mehr als fünfzig Mitglieder; Männer und Frauen unterschiedlicher Generationen – und vor allem unterschiedlicher Ethnien-Zugehörigkeiten. Hutu und Tutsi singen heute nebeneinander als eine Glaubensfamilie von Frieden und Einheit.

Bild einer versöhnten Nation

Auf den ersten Blick scheint es, als existiere das Konfliktpotential von damals in der ruandischen Gesellschaft nicht mehr. Wie im Chor St. Dominique, so auch auf den Straßen, bei der Arbeit und in den Familien leben die Ruander wieder unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit friedlich zusammen.

Ruanda ist bemüht, das Bild einer versöhnten Nation zu präsentieren. Zum 20-jährigen Gedenken an den Völkermord ist das Thema in der Öffentlichkeit präsent. Zeitungen berichten täglich über das Geschehene, die heutige Lage, persönliche Schicksale und Hintergründe. Die Aktion „kwibuka20. remember – unite – renew“ („kwibuka“ bedeutet auf Kinyarwanda „erinnern“) findet großen Zulauf. Auf der Internetseite, über die sozialen Netzwerke, sowie im Rahmen verschiedener Veranstaltungen wird Wissen Ruanda: Gedenken an den Genozid Tiefgreifende Versöhnung braucht Zeit über den Völkermord von 1994 verbreitet und die heutige Lage aufgearbeitet. Mit den vielen Diskussionsforen, die alle Ruander dazu einladen ihre Erfahrungen zu teilen, soll der Welt gezeigt werden, dass Versöhnung möglich ist. Seit dem 7. Januar dieses Jahres, genau drei Monate vor dem offiziellen Gedenktag, werden Veranstaltungen in Ruanda und auf der ganzen Welt abgehalten. Für den Gedenktag am 7. April 2014 sind unter anderem der „Global Walk to Remember“ weltweit und der „National Walk to Remember“ in Ruanda geplant.

Auch außerhalb dieser bedeutungsvollen Zeit des 20-jährigen Gedenkens versucht Ruanda die Erinnerungen wach zu halten; die wohl bekannteste Gedenkstätte des Landes ist das „Genocide memorial museum“ in Kigali. Die Möglichkeit eines weiteren Völkermords soll gar nicht erst wieder aufkommen. In diesem Sinne wurde auch im Juni 2008 ein Gesetz verabschiedet, das die „Genozid-Ideologie“ verbietet und unter Strafe stellt.

Schweigen in der Bevölkerung

Doch all dies scheint von den oberen Reihen für die internationale Öffentlichkeit eingerichtet worden zu sein. Die Bevölkerung spricht außerhalb dieser Veranstaltungen nicht über den Völkermord und die heutige Lage der Versöhnung. Das Thema wird totgeschwiegen und in den Medien nur das dargestellt, was von oben für die Öffentlichkeit vorgesehen ist.

Bosco* ist 23 Jahre alt und Mitglied des Chores St. Dominique Kacyiru in Kigali. Er und seine Familie überlebten den Völkermord, da sie Hutu sind. „Mörder waren meine Eltern nicht“, sagt er, „aber geholfen hat meine Familie den Tutsi damals auch nicht.“ Auf meine Frage, wie es denn nun für ihn sei, in einer Gemeinschaft zu leben, in der Hutu und Tutsi nebeneinander als Familie über Frieden und Einheit singen, antwortet er nur: „Wir denken gar nicht daran, dass wir aus unterschiedlichen Gruppen kommen. Das spielt heute keine Rolle mehr. Daran zu denken oder darüber zu sprechen ist doch völlig sinnlos.“

Der Chor vereint die Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Dennoch estehen hinter der schönen Fassade noch immer Vorbehalte gegenüber dern anderen Volksgruppe. © privat

Gibt dieses Schweigen vielleicht sogar ganz still mehr über die eigentliche Lage der Versöhnung in Ruanda preis als die großen Zeichen der Medien und der Regierung? Vermutlich schon. Die Versöhnung ist trotz vieler schöner Beispiele der Einheit noch lange nicht so weit, wie es auf den ersten Blick scheint.

Ein anderer Sänger im Chor St. Dominique sagt hinter vorgehaltener Hand: „Ich könnte niemals eine Hutu heiraten.“ Er selbst ist Tutsi, ein Großteil seiner Familie fiel 1994 den radikalen Hutu zum Opfer.

Die Rolle der Medien

Dass die Ruander bezüglich dieses sensiblen Themas besonders gegenüber Medien äußerst verschlossen sind, lässt sich ein Stück weit nachvollziehen. Die Medien spielten beim Völkermord eine große Rolle. Damals ließ die Regierung unmittelbar vor Beginn des Mordens überall im Land kostenlose Hörfunkgeräte verteilen. Die regierungsnahe Radiostation RTLM verbreitete daraufhin während der gesamten Zeit Berichte über fiktive Massaker der Tutsi an den Hutu, um die Ermordung der Tutsi als Verteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen. Täglich wurde regelrecht zum Morden an den Tutsi aufgerufen. Das Vertrauen in die Medien ist noch lange nicht wieder aufgebaut.

Niemals vergessen

Ist die Versöhnung also Realität oder nur Fassade? Bei der Heimfahrt vom sonntäglichen Gottesdienst bekomme ich auf diese Frage eine überraschend ehrliche Antwort. Der Fahrer meines Motorrad-Taxis, Jean de Dieu, erklärt mir, dass den Ruandern gar keine andere Möglichkeit als eine Versöhnung bliebe „Ich kann mir in meinem Job ja nicht aussuchen, wen ich auf dem Motorrad mitnehme. Klar würde ich bevorzugen, nur Tutsi zu fahren, aber ich habe auch nichts dagegen, wenn ein Hutu bei mir hintendrauf sitzt“, meint er. Ob das nun etwas mit ehrlich gemeinter Versöhnung zu tun habe oder nicht, wisse er selbst nicht.

Das einzige, was ich sicher weiß ist, dass wir 1994 niemals vergessen werden und dürfen. Wiederholen wird sich das Ganze auch nicht. Aber die tiefgreifende Versöhnung braucht eben Zeit.“

Große Fortschritte würdigen 

Das individuelle Schweigen der Ruander kann somit auch als ihre eigene Art, die Geschehnisse zu verarbeiten, gesehen werden. Niemand will erneut Hass oder Missverständnisse durch falsche Worte schüren. Als außenstehender Beobachter bleibt einem also nur übrig, den wenigen gesungen Worten „Im Frieden und der Einheit“ des sonntäglichen Gottesdienstliedes in der Kigalis Kirchengemeinde St. Dominique zu glauben und Ruandas große Fortschritte, sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich, der letzten zwanzig Jahre zu würdigen.


Hintergrund: kwibuka – erinnern

Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi findet seinen Ursprung in der Kolonialzeit. In Folge des Ersten Weltkriegs wurde Ruanda belgische Kolonie. Vor dieser Zeit lebten Hutu, Tutsi und Twa (eine dritte, kaum vertretene Ethnie in Ruanda) friedlich in einer Minderheitendynastie der Tutsi zusammen. Doch die Distanz zwischen den Ethnien vergrößerte sich, als unter der belgischen Herrschaft die Ethnienzugehörigkeit in den Ausweisen der Ruander festgehalten wurde. Die Hutu wurden im Zuge des in den 1960er Jahren einsetzenden Dekolonisationsprozesses von den Belgiern zunehmend unterstützt. Am 1. Juli 1962 wurde die unabhängige „Hutu-Republik“ ausgerufen. Bereits in der Zeit zwischen 1962 und 1994 fielen zehntausende Tutsi verschiedenen Pogromen radikaler Hutu zum Opfer, hunderttausende Tutsi flüchteten aus Ruanda. Mit Juvénal Habyarimanas Regierungsübernahme durch einen Militärputsch 1973 schien sich der Konflikt abzumildern. Doch spätestens mit den ökonomischen Problemen zu Beginn der 1990er Jahre wuchs der Unmut in der Bevölkerung wieder an – ein zusätzlicher Nährboden für den folgenden Völkermord.

Die Vorkehrungen für den Genozid waren bereits getroffen, als Präsident Habyarimana und sein burundischer Amtskollege am 6. April 1994 bei einem bis heute ungeklärten Attentat auf ihr Flugzeug in Kigali getötet wurden. Dieser Anschlag galt als Startschuss für das Morden. Innerhalb weniger Stunden errichteten die Hutus Straßensperren. Auf „schwarzen Listen“ waren die „Feinde“ verzeichnet, Tutsi wurden systematisch abgeschlachtet. Erst nach hundert Tagen der Hölle gelang es der im Exil gegründeten Opposition RPF unter Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame im Juli 1994 Kigali einzunehmen und den Völkermord zu beenden. Mit bis zu einer Million Opfer ging er als eines der schwersten Verbrechen des 20. Jahrhunderts in die Weltgeschichte ein.

Das Versagen der UN spielte dabei eine ausschlaggebende Rolle. Obwohl es eindeutige Anzeichen für einen geplanten Völkermord gegeben hatte, wurden nur Beobachtergruppen entsandt. Lediglich Frankreich schickte nach vielen Wochen eigene Truppen nach Ruanda und half mit der umstrittenen Einrichtung einer Schutzzone das Morden zu beenden. Erst nach dem Waffenstillstand erkannte die internationale Gemeinschaft die Taten als Völkermord an.

Noch heute gibt es große Herausforderungen in der Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse. So befinden sich immer noch viele Täter, die bis heute keinem Gericht vorgeführt wurden, im Exil, unter anderem in Deutschland. Doch es sind auch Fortschritte in der Rechtsprechung zu verzeichnen, sowohl in Ruanda durch die hierfür gegründeten Dorfgerichte als auch durch den Internationalen Strafgerichtshof. Es fehlt im Land jedoch noch immer an Psychologen, um die Menschen bei der Verarbeitung ihrer erlittenen psychischen Traumata zu unterstützen. Besonders aber die Rückkehr der vielen tausend Flüchtlinge, die bis heute in den Nachbarländern leben und dort nicht akzeptiert werden, ist eine der größten aktuellen Herausforderungen.

Subscribe to my newsletter

I send out irregular updates with newly published articles or podcast episodes, personal news, pretty snapshots or thought-provoking reflections. Promised no spam! To receive these colourful summaries of my moved life, sign up here!

(If you prefer receiving them via WhatsApp, please use the contact form.)